Ursula MÜLLER

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name Ursula MÜLLER

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birth 20. July 1705
Memmingen, Stadt Memmingen Find persons in this place

Notes for this person

Familienname: Müller

Weitere Namen: Maria Ursula

Vorname (kurz): MUrsula

Name (kurz): Ursula Müller

Status: ev-luth

Quellen: Bernhard Roth:

Die Inspirierten - eine Gruppe des radikalen Pietismus

Exemplarisch dargestellt an der Geschichte der Familie Müller, Memmingen und Homrighausen

  1. Vorbemerkungen

Die Geschichte der Inspirierten ist für mich, es mag sich angesichts von fast 300 Jahren Abstand seltsam anhören, ein wenig erlebte Geschich-te. Sie lebt in den Geschichten, die zu Hause von den Vorfahren aus Schwarzenau erzählt wurden. DerGroßvater nimmt den Enkel mit ins Hüttental, wo die eigenen Vorfahren zusammen mit den Großen ihrer Gruppe lebten, mit Alexander Mack usw. Sie verbindet sich mit den Bildern der Großonkel, die mit der Mütze in der Hand in unserer Küche stehen und warten, bis das Gebet gesprochen ist. Alles brave reformierte Christen, zu Hause in der Landeskirchlichen Gemeinschaft. Ja, und mit dem Bild des Urgroßvaters, eines streng blickenden Mannes mit langem Bart, abgemildert von einer Schar von Enkeln, die ihn auf einigen Fotos umgeben. Die Erzählungen schildern ihn als strengen, aber sehr geliebten Mann. Ein Freund und guter Bekannter der bedeutenden Siegerländer Brüder der Erweckungsbewegung und Nachfahre der HomrighauserSchwaben. Aber gehen wir zu den Anfängen.

Das 18. Jahrhundert ist geprägt von seinen Gegensätzen, Widersprüchlichkeiten, Umbrüchen, seinem Facetten reichen Bild nach außen und den dahinter verborgenen, oft sehr elenden, fragwürdigen Bildern. "Religion, Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit - alles beherrscht nur die Oberfläche des städtischen Daseins. Die von herrlichen Häusern eingefassten Straßen werden reinlich gehalten und jedermann beträgt sich daselbst anständig genug; aber im Innern sieht es öfters umdesto wüster aus, und ein glattes Äußere übertüncht, als ein schwacher Bewurf, manches morsche Gemäuer, das über Nacht zusammenstürzt und eine desto schrecklichere Wirkung hervorbringt, als es mitten in den friedlichen Zustand hereinbricht. Wie viele Familien hatte ich nicht schon näher oder ferner durch Bankrotte, Ehescheidungen, verführte Töchter, Morde, Hausdiebstähle, Vergiftungen entweder ins Verderben stürzen oder auf dem Rand kümmerlich erhalten sehen", beschriebt deralternde Goethe Jahrzehnte später diese Zeit (1). Goya sollte zum Ende des Jahrhunderts hin diese Welt in seinen Bildern entlarven. Die Gesichter auf den höfischen Gemälden zeigen realistisch Hässlichkeit und Dekadenz, die Zeichnungen menschliches Elend und kirchliches Versagen (2).

Diese Zeit bringt eine Bewegung hervor, die uns in ihrem Erschei-nungsbild sehr fremd, ja in vielem absurd erscheint, eine Frömmigkeit, zu der uns der Zugang schwergefallen. Gerade auf dem Hintergrund einer reformierten Tradition scheint nur wenig Zugang zu dem radikalen Pietismus zu bestehen mit seinen ekstatischen Gottesdienstformen, mit dem Nebeneinander des Wortes Gottes, der Heiligen Schrift, und den Offenbarungen seiner Propheten auf einer Ebene. Und doch sind die Kerngebiete der Inspirierten reformierte Gebiete. Seinen Gegnern auf Seiten der lutherischen Orthodoxie kann auf weite Strecken nur zugestimmt werden, wenn sie etwa unverrückbar bei dem sola scriptura ver-harren. Und doch kann die Kirchenkritikder Inspirierten nicht überhört werden, die kompromisslos aufdecken, welche moralischen Verhältnisse sich hinter der Fassade verbergen.

Goethe, um ihn noch einmal zu zitieren, sagt, "daß das Absurde eigentlich die Welt erfülle." (3) Ist es nicht absurd, wenn die Vertreter der reinen Lehre die bekämpfen, die schriftgemäße Verhältnisse in der Gemeinde einfordern, die von denAbendmahlsgästen die Einhaltung der Gebote erwarten, aber - wie bis heute - mit denen nachsichtig sind, deren Leben all dem widerspricht, was sie lehren, um der Wirklichkeit und Ruhe der Gemeinden willen? Ist es nicht absurd, um nur zwei neuere Beispiele zu nehmen, wenn Pietisten und Kohlbrüggianer sich bekämpfen in der Frage der Rechtfertigung, wenn kohlbrüggianische Prediger den anderen Verletzung des sola gratia, solus Christus, vorwerfen und dann doch die Verfehlungen ihres eigenen Lebens mit den eigenen Theologumena selbst rechtfertigen und nichts ändern? Wenn Vertreter der Kirche und hoher Militärs über Römer 13 nachdenken und auf der anderen Seite Millionen Menschen entrechtet und ermordet werden von einer scheinbar durch Römer 13 geschützten Regierung? Mir scheint, Goethe hat sehr recht.

  1. Die geistesgeschichtliche Einordnung der Inspirierten

Mit Goethe und Goya habe ich schon versucht, geistesgeschichtliche Bezüge herzustellen, aber die Verankerung der Inspirierten im 18. Jahrhundert und ihre Bedeutung für diese Zeit ist damit keineswegs er-schöpfend dargestellt. Die Inspirierten und ihre Literatur sind für die Entwicklung der deutschen Literatur sehr wichtig geworden. Sie pfleg-ten die Aussprachen ihrer "Werkzeuge" durch Schnellschreiber mitschreiben zu lassen und sie nachher in ihren Gemeinden zu veröffentlichen. Sehr viele dieser Reden sind erhalten geblieben. In ihnen begegnet uns eine Sprache, die nicht nach den Gesetzmäßigkeiten der Zeit formal überarbeitet worden ist (4). Erstmals finden wir hier eine "dezidiert gefühlsbetonte, intuitiv - subjektive Poetologie!", die "als das wichtigste Ferment anzusehen ist, das diesen Prozeß der deutschen Literaturge-schichte vorbereitet und ermöglicht hat."(5) Gemeint ist der Prozess, der hinführt zur Phase des Sturm und Drangs. Bei den inspirierten Werkzeugen und ihren Reden ist vorweggenommen, was später im Sturm und Drang im Erleben der Dichter, in ihrer Inspiration und Intuition begegnet. Die Reden der Werkzeuge der wahren Inspiration sind in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung kaum zu überschätzen. Johann Gott-fried Herder schreibt von den Inspirierten: "Aus Halle durchzogen sie einen großen Theil Deutschlands; wo sie durchzogen, streueten und ließen sie Funken." (6)

  1. Die Wurzeln der Inspirierten

Die Ursprünge dieser dem radikalen Pietismus zuzuordnenden Bewe-gung der Inspirierten liegen in Frankreich. Seit 1685 hatte Ludwig XIV. mit der Aufhebung des Ediktes von Nantes das religiöse Leben der Protestanten verboten. Noch einmal kames zu dem Versuch, die absolutis-tische Herrschaftsform durch eine zwanghaft geschaffene Einheit von Staat und Kirche zu erreichen bzw. zu erhalten. Die reformierten Pasto-ren wurden des Landes verwiesen. Von 1702 - 1710 kam es in den Cevennen zum Aufstand der Kamisarden. Nach der Ausweisung der Pastoren hatten Laienprediger deren Aufgabe übernommen. Die Gemeinden trafen sich zu geheimen Versammlungen. Neben den Laien-predigern entwickelte sich eine Gruppe sogenannter Propheten. In ih-nen wird man die Wurzeln der Inspirierten und ihrer ebenfalls Propheten bzw. "Werkzeuge" genannten Anführer zu sehen haben. (7)

Der Weg der Bewegung nach Deutschland war allerdings nicht der direkte. Über französische Protestanten im Exil kam diese Form radikalen Pietismus´ in die Niederlande und nach England. Auch die Entwicklung in der Schweiz spielte eine wesentliche Rolle. Als Prophezeiungen der exilierten Propheten in England nicht in Erfüllung gingen, wurden sie von dort vertrieben. Einige gehen nach Halle und treffen dort auf vom Pietismus Speners geprägte Gruppen. Wir finden Zeugnisse dieses radikalen Pietismus in Halle. Die dortigen "Inspirierten" werden allerdings aus Halle vertrieben und auch später vom Halle ´ schen Pietismus skeptisch bis ablehnend betrachtet. Radikaler als der Pietismus Halle´ scher Prägung drängte dieserZweig der pietistischen Bewegung auf Trennung von den herkömmlichen Kirchen. Daneben weisen sie in der Regel starke chiliastische Züge auf. Nur zu Zinsendorf gab es eine Zeit lang enge Beziehungen. Er besuchte die Inspirierten in Berleburgund hatte nach seiner Vertreibung im Exil in der Grafschaft Isenburg Büdingen Kontakt zu ihnen, der aber später zerbrach.

  1. Die Anfänge der Inspirierten in Deutschland

In Halle sind die Brüder Pott in den Einfluss der französischen Propheten geraten. Ebenso kommt dem Ehepaar Petersen besondere Bedeutung zu. Sie haben eine sehr wechselhafte Geschichte im Kontext des radikalen Pietismus. Der frühere PfarrerEberhard Gruber (8) aus Württemberg wurde, ohne je ein "Werkzeug" zu sein, zu einer zentralen Figur der Inspirierten. Ihm ist es zu verdanken, dass die Inspirierten im Unterschied zu anderen radikalen Gruppen eine Gemeindestruktur entwickelt haben. Gruber lebte zuletzt in Schwarzenau, nach Isenburg-Büdingen das Zentrum der Inspirierten.

  1. Johann Friedrich Rock (9)

Die wichtigste Persönlichkeit der Inspirierten ist der Sattler Johann Friedrich Rock. Rock wurde 1678 als Sohn eines schwäbischen Pfarrers geboren. Auf seinen Gesellenwanderungen kam er mit pietisti-schen Kreisen in Verbindung. Er kehrte 1702 nach Württemberg zurück. Hier schloss er sich den Kreisen um den Pfarrer Eberhard Ludwig Gruber an. Als Gruber wegen seiner separatistischen Neigungen sein Pfarramt verlor, zog Rock, der zwischenzeitlich im Gefängnis war, in die Grafschaft Isenburg-Büdingen. Dort lebte und arbeitete er als Hofsattler. Hier geriet er Ende 1714 in den Sog der Inspirierten. Durch die Gebrüder Pott wurde er - anfangs sehr zögernd (10) - zum "Werkzeug". Rock selbst schreibt dazu: "Nachdem es sich nun zugetragen / daß die Inspirirte ins Land kommen / so hörete ich auch davon / wie gräuliche Bewegungen und wunderliche Verstellungen die Leute haben solten; darüber ich dann erschrocken: Bate auch GOtt / Er solte mich doch be-wahrenvor falschen Kräfften; ja warnete auch andere / daß sie sich hüten solten; dann es würden wahre und falsche Propheten in der letzten Zeit außgehen." Aber die Begegnung mit den Inspirierten beeindruckte Rock. Er entdeckte an ihnen nicht "dasgeringste... so wider die Lehr und das Leben der Propheten / Apostel / oder deß HErrn selbsten ge-loffen wäre.."(11). Er wird von ihrer "Aussprach" und von den Gebeten der Brüder berührt. Auf Bitten seiner Mutter besucht er zum wiederholten Mal die Versammlung. Wie er zum "Werkzeug" wird, das er länger als jeder andere bleibt - zuletzt ist er es nur noch allein -, berichtet er selbst: "Wir knieten darauff mit einander nider: und alsobald hüpffete mein Hertz im Leibe / daß der Leib darüber erschüttert wurde. Ich betete nicht selber / sondern ergötzte mich nur in der sanfften Liebe meines JEsu / wie solches Ihme / vor dem ich solches schreibe / am besten bekannt ist. Je mehr aber die Brüder beteten / je mehr würde mein Hertz angezündet / daß ich mich immer stärcker bewegen mußte: Ja ich legte mich gar auff die Erde nider / um es / wo möglich / zu verbergen. Allein es hube mich von der Erden auff / und kam ein solcher starcker Odem aus dem Hertzendurch die Nasen / daß ich mich selber nicht genug darüber verwundern konte: darauff dann ein fröliches Lachen folgete / und zu meiner grossen Befremdung zimlich lang anhielte: dann es geschahe solches alles mit meinem Wissen / ob schon nicht durch mein eigen Würcken: und so offt ich in mein Hertz einkehrete / so hüpffete der Geist in mir / wie es noch biß diese Stunde geschiehet / wann ich wachsam und sorgfältig über mein Hertz bin. Weil aber der Feind alles weiß zu seinem Vortheil zu gebrauchen / so machte er sich auch da herbey / und zwar insonderheit durch Hochmuth mich zu bethören / so / daß ich gleich diß Lied zu singen angab: O JEsu / mein Bräut´gam / wie ist mir so wol! worüber ich aber auch gleich Bestrafung in mir bekame / und dardurch von dem Herrn gedemüthiget wurde." (12) Rock entfaltete nun eine rege Reisetätigkeit durch ganz Deutschland, von Breslau bis in die Pfalz, nach Württemberg und Schwaben, bis nach Zürich und in die französische Schweiz. Überall besuchte er pietistische Kreise und führte viele den Inspirierten zu. Er trat auf vor Stadträten und versuchte sie zu bekehren und sie auf moralische Missstände hinzuweisen. Mehrmals wurde er als Unruhestifter ins Gefängnis gebracht. Rock hatte Kontakt zu den führenden Pietisten wie dem Grafen Zinsendorf. Allerdings distanzierten sich viele von ihm (13). Zentrum seines Wirkens sind die Grafschaften Isenburg-Büdingen und Wittgenstein. Erstaunlich ist,wie intensiv die Kontakte zwischen den einzelnen Gemeinden der Inspirierten sind und wie schnell Nachrichten übermittelt werden. Es kann z. B. kein Zufall sein, wie termingerecht Rock 1717 in Memmingen erscheint, als dort eine Verständigungder Inspirierten mit dem Rat der Stadt zumindest nicht unwahrscheinlich zu sein scheint. Nach dem Tod von Eberhard Ludwig Gruber übernahm Rock die Leitung der Inspirier-ten. Er starb 1749. Uns heute ist Rock nicht einmal mehr dem Namen nach bekannt, theologiegeschichtlich kommt ihm aber eine nicht geringe Bedeutung zu. In seinem Jahrhundert ist er eine weithin bekannte Gestalt. Karl Barth schreibt zu ihm: "Sie (die Inspiration) hat den Sattler J o h a n n F r i e d r i c h Ro c k (1678 - 1749) ergriffen und zu einem Seher und Künder gemacht, auf dessen seltsame Botschaften das hal-be oder ganze pietistische Deutschland lauschte, den auch ein Bengel, ein Oettinger, ein Tersteegen, ein Jung-Stilling ehrerbietigaufsuchten." (14)

  1. Die Hauptpunkte der Lehre der Inspirierten

a. Inspiration

Nicht nur Namen gebend, auch in dem Bekenntnis ist die Lehre von der Inspiration Kern der Inspirierten Gemeinde. Gott hat nicht nur die Worte der Heiligen Schrift wörtlich eingegeben, auch die Inspirationen der "Werkzeuge" sind von Gott eingegeben und der Heiligen Schrift gleich zu setzen. Neben das kirchliche Bekenntnis, oft auch vor dieses, tritt das Wort Gottes, das im eigenen Herzen zu erkennen ist. Ihm folgt man, in ihm erkennt man Gottes Führung im Pietismus, nicht nurin seiner radikalen Ausprägung bei den Inspirierten (15). So schreibt schon Tennhardt: "Also ist mein Bitten: diese von Gott zugesandte mir dictirte Schrifften, als warhafftige Worte Gottes anzunehmen, dem großen Gott zu Ehren und den Seelen zum besten, mit Andacht öffters zu lesen, das Leben darnach zu ändern und den Willen Gottes zu vollbringen." (16) Wie schon angedeutet, begleiteten Schnellschreiber die Werkzeuge und schrieben deren Eingebungen mit. Das geht so weit, dass die Stellen, an denen sie den Worten so schnell nicht folgen konnten, nicht ergänzt, sondern als Auslassungen gekennzeichnet wurden. (17) Bei der Veröffentlichung im Druck findet sich oft die Einleitung: "Aufrichtig und wahrhafftig herausgeschrieben und in Druck gegeben" oder "Redlich und aufrichtig heraus geschrieben und ans Licht gestellet" (18). Die Schreiber waren ständig zugegen und, da die Inspirationen unvorhergesehen kamen, bereit die Reden aufzunehmen. Johann Heinrich Jung - Stilling schreibt in "Theobald und die Schwärmer", dass einige Männer wie eine Leibwache das Werkzeug umgaben. "Sie schrieben seine Reden aus seinem Mund auf; diese begleiteten ihn allenthalben und dieneten ihm." (19) Bei der Schilderung einer Ekstase wird sogar das Schreibmate-rial erwähnt: "Die artig gekleideten Fremden ...wünschten mit seinen Freunden namentlich geistlichen Standes bekannt zu werden. Indessen fing einer Bewegungen an, verdrehte die Augen, verwarf die Hände, juckte auf, gab Töne von sich, der zweite nahm Bleistift, der dritte Dinte aus der Tasche und schrieben Alles erstaunlich geschwind nieder." (20) Diese Beobachtungen sind Zeichen der theologischen Bedeutung der Inspirationen,aber sie belegen auch die geistesgeschichtliche Bedeu-tung. Wir haben hier Texte vor uns, die, einmalig in dieser Zeit, direkt und ohne literarische Überarbeitung Sprache und Gedanken überliefern.

Die exstatischen Reden sind keineswegs "stilloses" Reden. Es lassen sich bei den unterschiedlichen Werkzeugen unterschiedliche Redeweisen feststellen. Der Nürnberger Tennhardt, eher ein Vorläufer als ein Werkzeug der Inspirierten, hat seineInspirationen in Reimform ausgedrückt. Ein Beispiel: "Als ich Zwey gegen Tag erwachte / so hörte ich nachfolgenden Reim: Ein Weg wie der andere: ich fange an und wandere: meinem lieben Jesu nach: durch Creutz / Leiden / Trübsal und Schmach: Ach! Ja mein allerliebstes JEsulein: ich folge dir durch Ley-den / Trübsal und Pein: du wollest nur ferer mein Gefährde seyn: mich leiten und bringen in den Himmel hinein: da wird alles Leyden: von mir scheiden: wann ich komme in den Himmel hinein: werde ich schmecken deinen Freuden = Wein: den du mir: manchmal hier: in diesem Leben: hast gegeben." (21)

Stilistisch anders sind die exstatischen Reden Johann Friedrich Rocks. Seine Inspirationen beziehen sich sehr stark auf die Heilige Schrift. Es bleibt zwar dabei, dass seine "Aussprach" Wort Gottes ist, aber es gilt für ihn auch: " Die unmittelbaren Offenbarungen sind niemahl ein or-dentliches Mittel gewesen der innern Hertzens = Bekehrung bey denen welchen sie wiederfahren sondern dazu hat GOtt das verkündigte und betrachtete Wort sonderlich das Wort der Evangelii gebrauchet." Aller-dings dann doch mit deutlichem Bezug zu den eigenen Inspirationen: " Auß den unmittelbaren Offenbarungen ist die heilige Schrift Altes und Neues Testament entstanden und an derselben haben wir die unmittelbare Offenbahrung als eineunfehlbare auch als die eintzige Regel und Richtschnur unseres Glaubens und Lebens." (22)

Rock sieht schon seine "Berufung" in enger Beziehung zu Jeremia 1. Seine "Außsprachen" gehen oft von den vorher gelesenen Bibeltexten aus. Zentrale Worte des Textes kehren in der exstatischen Rede immer wieder, auch wenn er dann von der Bibelstelle abweicht. (23) Ebenso können sich Lieder in einer "Außsprach" wie ein roter Faden durchziehen. Ein Beispiel, das gleichzeitig die Nähe zur Offenbarung des Johannes, damit die verbreitete Naherwartung verdeutlichen kann, mag die Rede Rocks sein nach der Strophe des Liedes "Es ist gewisslich an der Zeit" mit den Worten "komm doch, komm doch, du Richter groß...": " Ich komme ja schnell als ein Blitz / und überfalle die Menschen = Kinder als ein heftiges und schnelles Wetter. Ich komme eilend, und mein Lohn kommt mit mir, spricht der Ewige und Allmächtige zu vergelten in Liebe, Gnaden und Erbarmen denen zu mir kommenden (....). Ich komme denen rechten Glaubens = Kämpffern zu Hülffe (....). Ich komme anzustrahlen und zu erquicken die mir rechtschaffen Entgegen = kommende...." (24) Fraglich scheint mir, dass die "Werkzeuge" in ihren Ausspra-chen sachlich über die Aussagen der Bibel, wie sie von ihnen verstan-den wurden, hinausgehen. Ihr Fundamentalismus scheint ihnen Grenzen gesteckt zu haben. (25)

b. Gottesdienst

Da es nur sehr wenige "Werkzeuge" gab und nur sie "Außsprachen" hatten, finden wir zwei Gottesdienstformen, eine bei Versammlungen ohne exstatische Rede und eine mit einer solchen Rede. Die "normale" Versammlung der Inspirierten ist sehr schlicht gehalten. Man muss bedenken, dass exstatische Rede keineswegs der Normalfall einer Zusammenkunft inspirierter Gemeinden war, sondern einigen wenigen Werkzeugen, über lange Zeit nur einem einzigen Werkzeug, Johann Friedrich Rock, vorbehalten war. Über eine Zusammenkunft einer Gruppe Inspirierter in Memmingen berichtet der lutherische Pfarrer Brandmüller: "als Sie meinten niemand mehr komen möchte wurden sie still, über ein weil fing Abraham Funck an, danckte Gott das erihnen ein Räumlen gegönnet und die Obrigkeit dahin gelenckt, und bat das er ihnen solches wollte erbaulich seyn lassen. Drauf fing er an das 1. Cap. An die Römer zu erklären, da ia zuweilen die andern auch ihre Gedancken beytrugen, ich selbst nahm, wie wol nur 2. mal, die gelegenheit wann sie wider den grund text anstiessen, oder denselben nicht genug erschöpften, es etwas völliger fürzutragen. Endlich beschloß Abr. Funck diese Zusammenkunfft mit einem kurzen Gebett auf denKnien: er war diese ganze stund über traurig, weinte in sein Gebett, und zuwweilen in der Erklärung, dergleichen auch die Heberlerin die ganze Stund hindurch that..." (26) Brandmüller berichtet auch von Versammlungen, die mit einem Lied beginnen und enden. Im Ganzen gesehen sind es schlichte Bibelstunden, bei deren Aussprachen sich die einzelnen beteiligen konnten.

Rock selbst hat seine erste Außsprach beschrieben, wie oben dargelegt (27). Mir scheint keine strenge Form vorgelegen zu haben. Aus dem Jahr 1745 liegt die Beschreibung einer Gemeindeversammlung durch einen Frankfurter Kaufmann Johann Felician Clarus vor (28), ich lasse es bei einem kurzen Auszug bewenden: "Die heutige Versammlung .... war angefangen mit dem Lied Hüter, wird die Nacht der Sünden. Nach dessen Endigung betete ein Jedes der Anwesenden kniend, und die es konnten,laut; nach diesem las.... die Worte anstatt des Textes Ap. Gesch. XVII. v. 10 - 23. Da Er etwa eine gute ¼ Stunde darin ausgehalten, so hörte ich, daß der seitwärts meiner Rechten hinter mir sit-zende Rock etwas fallen ließ (so sein Buch und Brille war:) ..." Nach einer halben Stunde hört die Exstase auf. Es wird betont, dass Rock deutlich und klar bei seinen Reden gesprochen hat.

Aus einer starken Abendmahlsscheu heraus haben die Inspirierten insgesamt nur fünf Mal gemeinsam Abendmahlsfeiern abgehalten, allerdings in einer Kombination von Agape- und Abendmahl. Es zeigt sich Scheu vor dem Missbrauch des Sakraments, aber auch, dass die Inspi-rierten den Sakramenten keine entscheidende Bedeutung beimaßen.

  1. Ausblick und Zusammenfassung

a. Kurzer Blick in die weitere Geschichte der Inspirierten

Mit dem Tod der führenden Männer der Bewegung der Inspirierten scheint sie in eine Krise gekommen zu sein, mindestens waren nicht unerhebliche Probleme zu bewältigen. "Werkzeuge" gab es nach Rock nur noch wenige, vor allem zu Beginn des 19.Jahrhunderts in der beginnenden Zeit der Erweckung. Sie erreichten aber keineswegs die Bedeutung Johann Friedrich Rocks. Es gibt Zeugnisse dafür, dass um 1796 in den Wittgensteiner Gemeinden Missstände auftraten. Ein bei Scheuner abgedruckter Brief junger Auswanderer nach Amerika an den Vorstand der Homrighauser Gemeinde lässt darauf schließen, ebenfalls bei Scheuner zu findende Andeutungen an "Krisensitzungen." Es scheinen sich einige mit Billigung der Gemeindeleitung der reformierten Kirche angeschlossen zu haben. Ein neuer, kleiner Aufschwung kam mit der Erweckungsbewegung, der allerdings die Inspirierten nicht wieder zu gleicher Blüte führte wie Anfang des 18. Jahrhunderts. In den 40ger Jahren des 19. Jahrhunderts wanderten viele von ihnen nach Amerika aus. Nach einer Zwischenstation siedelten sie sich in Iowa an und gründeten die Gemeinde Amana. Im Laufe der Zeit entwickelten sie sich zu einer Freikirche, die noch heute besteht. Sie sind eine der wenigen Gruppen des radikalen Pietismus, die Bestand hatten. Zu danken haben sie dies wesentlich E.L. Gruber, der dieser schwärmerischen Bewegung doch gewisse kirchliche Strukturen gegeben hat.

b. Abschluß

Dass uns die Inspirierten theologisch fremd, vielleicht theologisch suspekt sind, braucht nicht betont zu werden. Ihre Gegner in der lutherischen Orthodoxie hatten von Bekenntnis und Theologie her sicher vielfach recht mit ihren Urteilen und Verurteilungen, wenn es auch an ihr Vorgehen berechtigte Fragen gibt. Durch ihre Betonung der Relevanz der Gebote gab es eine von ihnen empfundene gewisse Nähe zur reformierten Kirche. Die Fragen, die sie nach Kongruenz von Bekenntnis undPraxis in den Gemeinden, von Glaube und Leben sind bis heute die Fragen pietistischer Kreise an die Kirche, eben-so wie ihre Suche nach der reinen, unverfälschten Gemeinde. Bei allem Fremden und Kuriosen müssen es auch unsere Fragen bleiben. Aber wir werden andere Antworten finden müssen. Mir scheint schon fraglich, ob die "or-thodoxen" Antworten heute genügen, ob - auch wenn es nie eine "reine" Gemeinde geben wird - unsere Volkskirche denn auf Dauer unser Modell von Kirchebleiben kann. Ich strebe nicht nach Konventikeln, aber eine wachsende Entkirchlichung verlangt nach neuen Antworten.

Mir imponiert an dieser radikalen Gruppe die selbstbewusste Praxis des Priestertums aller Gläubigen, auch wenn gerade sie auch die Gefahren aufzeigt. Die Konsequenz und der Mut ihrer Anhänger nötigt Respekt ab.

Fußnoten:

(1) Dichtung und Wahrheit, II. Teil, 7. Buch

(2) s. Hofmann, Goya, S. 9 ff.

(3) Zitiert nach Hofmann, S. 16.

(4) Schneider, Propheten, S. 9 ff.

(5) Schneider, Propheten, S. 9

(6) zitiert nach Schneider, Propheten S. 8

(7) S. Emmanuelle Carpuat, Das Wort im Dienst der Revolte: Propheten und Kamisarden, in: Chrystel Bernat (Hg.), Die Kamisarden, Eine Aufsatzsammlung zur Geschichte des Krieges in den Cevennen (1702-1710), S. 47 ff

(8) S. Andreas Kroh, in: Andreas Kroh und Ulf Lückel, Wittgensteiner Pietismus in Portraits, Bruchsal 2003, S. 61 ff.

(9) S. Ulf Lückel, Johann Friedrich Rock (1678-1749), in: Andreas Kroh und Ulf Lückel, Wittgensteiner Pietismus in Portraits, Bruchsal 2003, S. 113 ff.

und: Ulf-Michael Schneider, Artikel Johann Friedrich Rock, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band VI (1994) Spalten 466-469

(10) S. Schneider, Propheten, S.67

(11) so bei Schneider, Propheten, S. 69

(12) Johann Friedrich Rock, Wie ihn Gott geführet und auf die Wege der Inspiration gebracht habe, Autobiographische Schriften, ed. Ulf-Michael Schneider, Leipzig 1999, in: Kleine Texte des Pietismus, S. 7 f.

(13 S. Lückel a.a.O S. 110 f.

(14) Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 3. Auflage, Zürich 1960, S. 97

(15) Barth, a. a. O. S. 98

(16) Braun, S. 59.

(17) Schneider Propheten, S. 44 ff.

(18) Schneider, Propheten, S. 46

(19) nach Schneider, Propheten, S. 47

(20) Julius Studer, Der Pietismus in der zürchnerischen Kirche, 1847, S. 147 f., zitiert nach Schneider Propheten, S. 47.

(21) Johann Tennhardt, Worte Gottes, 1710, S. 30, zitiert nach Schneider, Propheten, S. 79

(22) Beide Zitate: Joachim Lange, Nöthiger Unterricht Von Unmittelbaren Offenbahrungen, 1715, S. 5,7 f. Zitiert nach: Schneider, Propheten, S. 73, Anmerkung 44

(23) S. Schneider, Propheten, S. 100 f.

(24) Zitiert nach Schneider, Propheten, S. 102

(25) Dies ist allerdings noch genauer zu überprüfen

(26) Bericht Brandmüller, Lect. In Sen. 24. Okt. 1717; Archiv Stadt Memmingen A 353/6

(27) S. o. S. 3 f.

(28) Schneider, Propheten, S. 60 f.

Paten: Melchior Kerler, Zeugmacher; Ursula Hörmann, ledig

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